Altersmedizin und ‑Forschung
»Schon als Kind einen gesunden Lebensstil einüben«
Welche Faktoren beeinflussen die Lebenserwartung und den Prozess des Alterns? Und was bedeutet die Überalterung für medizinische Behandlungen? Professor Dr. Ursula Müller-Werdan, Chefärztin des Evangelischen Geriatriezentrums sowie Direktorin der Klinik für Geriatrie und Altersmedizin der Charité in Berlin, hat diese Fragen für uns beantwortet.
Gesundheit Bremen: Warum werden wir immer älter? Welche Rolle spielen die Gene und der Lebensstil?
Professor Dr. Ursula Müller-Werdan: Die mittlere Lebenserwartung hat sich in den letzten 150 Jahren mehr als verdoppelt, was teils erklärbar ist durch einen deutlichen Rückgang der Kindersterblichkeit. Erfreulicherweise nimmt auch die fernere Lebenserwartung zu: So hatten 65-Jährige Ende des 19. Jahrhunderts im Schnitt noch etwa zehn Jahre vor sich – inzwischen sind es für Frauen über 21 und für Männer über 17 Jahre. Ein Teil dieser Entwicklung ist auf die Medizinfortschritte einschließlich Prävention zurückzuführen; vieles hat aber auch mit den verbesserten Lebensbedingungen zu tun, etwa Hygiene, gesündere Ernährung, Wohlstand und Unfallprävention. Es steht außer Frage, dass Erbanlagen die Lebenserwartung und Alterungsprozesse mitbestimmen, aber der Lebensstil und Umweltfaktoren spielen bei den meisten die weitaus wichtigere Rolle.
Wann beginnt der Alterungsprozess?
Erkennbare Gefäß- und Organveränderungen setzen mit dem frühen Erwachsenenalter ein, Abnutzungserscheinungen in Körperzellen bereits beim Embryo. Das hängt damit zusammen, dass die Zellen schädlichen Stoffwechseleinflüssen ausgesetzt sind und sich im Laufe der Zeit beschädigte Moleküle darin ansammeln. Körpereigene Reparatursysteme können nicht alle Schäden zurückbilden.
Wie wirkt sich die Entwicklung der Medizin auf die Lebenserwartung aus?
Die UN haben von 2021 bis 2030 die Dekade des gesunden Alterns proklamiert – ein Ziel der Alternsforschung ist es, dass Menschen nicht nur ein hohes Alter erreichen, sondern möglichst lange gesund und selbstständig leben können. In den letzten Jahrzehnten hat es eindrucksvolle medizinische Fortschritte gegeben, besonders auf dem Gebiet der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Studien zeigen zudem, dass Demenzerkrankungen heute im Mittel später auftreten als noch vor etwa 30 Jahren. Allerdings sind Wohlstand, Bildung und soziale Einbindung – neben der Medizin – wesentliche Faktoren für eine höhere Lebenserwartung und mehr Jahre ohne Gebrechlichkeit. Die recht neue wissenschaftliche Richtung der ›Geroscience‹ geht noch weiter: Ziel ist es, den Alterungsprozess auszubremsen und so Alterskrankheiten vorzubeugen.
Wie bleiben wir lange fit und gesund?
Ideal wäre es, schon als Kind einen gesunden Lebensstil einzuüben, um vermeidbare Risikofaktoren auszulassen, also Rauchen, übermäßigen Alkoholkonsum, Bewegungsmangel und Fettsucht. Jedoch ist es auch in höherem Alter nicht zu spät, etwas für die Gesundheit und Fitness zu tun. In der Geriatrie sehen wir durch eine teambasierte Behandlung – einschließlich einer Kombination von Ausdauer-, Kraft- und Gleichgewichtstraining – bei Hochbetagten oft eindrucksvolle Verbesserungen. Alte Menschen profitieren ebenso von einer Senkung erhöhter Bluthochdruck- und Blutfettwerte. Hinweisen möchte ich auch auf die angepassten STIKO-Impfempfehlungen. Neben diesen rein medizinischen Themen sind psychosoziale Faktoren bedeutsam: Einsamkeit ist ein starker negativer Stressor und gesundheitsschädlich.
Was bedeutet die Überalterung für medizinische Behandlungen?
Vor welchen Herausforderungen stehen Ärzt:innen und Kliniken?
Ältere und alte Menschen stellen schon jetzt das Gros der stationären Behandlungsfälle, selbst auf Intensivstationen. Oft liegen mehrere Erkrankungen gleichzeitig vor. Ärzt:innen sind aufgefordert, personalisierte Behandlungsempfehlungen für jeden dieser hochkomplexen Einzelfälle zu entwickeln, nach einer Risiko-Nutzen-Analyse für jeden diagnostischen Schritt und jede therapeutische Maßnahme. Der Forschungsbedarf ist gerade für Patient:innen über 80 Jahre sehr hoch, da diese bislang in klinischen Studien nicht ausreichend berücksichtigt wurden.